Tag 120 unserer Reise auf dem amerikanischen Kontinent. Drei Wochen noch, bis wir unsere Familien, befreundete Menschen und unsere beiden Kaninchen wiedersehen. Eine Woche noch, bis wir die USA verlassen, um in Belize am Strand für 14 Tage die Seele baumeln zu lassen. Um in Ruhe Fotos zu sortieren, Verabredungen für die Weihnachtszeit zu treffen und unseren nächsten Reiseabschnitt vorzubereiten. Es ist Zeit für eine Veränderung. Manches wiederholt sich, das bislang Erlebte verfestigt sich. Die USA sind ein schwierig zu fassendes, schwer zu begreifendes Land, es ist kompliziert: Den vielen freundlichen, herzlichen und einladenden Erlebnissen und Begegnungen steht eine jeden Tag aufs Neue sichtbare und jedes Mal aufs Neue verstörende Symbolik entgegen, die radikal und ausgrenzend wirkt und es vermutlich auch sein soll. Auf unserer Fahrt haben wir lebendige und beeindruckende Orte entdeckt, die Bewahrung des natürlichen und kulturellen Erbes in den Nationalparks, atemberaubende Landschaften, vibrierende Städte und boomende Technologiestandorte. Gleichzeitig sind uns nahezu jeden Tag Orte des Verfalls und der Armut begegnet, zersiedelte Landstriche und eine sichtlich in die Jahre gekommene Infrastruktur. Die teilweise krassen Gegensätze, die wir gesehen haben, werden uns vermutlich noch lange beschäftigen.
Das Leben in unserem Wohnmobil werden wir vermissen. 20 Quadratmeter, die uns für drei Monate ein zuverlässiges Zuhause waren. Bei 44 Grad in der Wüste von Arizona, bei Dauerregen in Texas, bei Nachtfrost in den Bergen von Utah und Virginia. Oder ganz aktuell bei schwülwarmem Winterwetter in Florida.
Bei den Manatees
Sie sind das Highlight unseres Ausflugs in den Wakulla Springs State Park, wir sind akut schockverliebt. Da können sich Reiher, Kraniche, Haubentaucher und all die anderen Vogelarten noch so anstrengen und sich pünktlich für die erste Bootstour des Morgens fotogen in Szene setzen. Auch Schildkröten und in ganzen Familienclans antretende Alligatoren – die uns selbstverständlich schwer beeindrucken – haben keine Chance gegen sie. Die unangefochtenen Stars in der nassen und sumpfigen Manege sind ganz eindeutig und völlig zurecht die lautlos unter der Wasseroberfläche dahingleitenden Manatees bzw. Seekühe. Bei jeder neuen Sichtung geht ein Raunen durch die Menge der knapp 30 auf unserem kleinen Boot versammelten Menschen. Wir können uns alle nicht sattsehen an den weichen, ruhigen und friedlich wirkenden Bewegungen der mehrere Meter großen Meeressäuger. Wie in vielen Flüssen und Buchten rund um Florida nutzen die gefährdeten Tiere das warme Wasser von Wakulla Springs, um zu überwintern und ihren Nachwuchs großzuziehen. Und wir haben die große Ehre, ihnen dabei unter möglichst schonenden Bedingungen ganz nah zu kommen. Unsere Fotos transportieren leider nur eine vage Vorstellung davon, welche Faszination uns beim Anblick der sanften Riesen ergreift. Es ist wieder eines dieser unfassbaren und überwältigenden Erlebnisse, die uns die Natur und Tierwelt in den USA schon so oft beschert haben.
Leuchtturm unter Palmen
Auf den Tipp unserer Gastgeberin des Campingplatzes in Sopchoppy hin, machen wir uns am Nachmittag auf ins St. Marks National Wildlife Refuge, eines der ältestens Naturschutzgebiete in den USA. Vom Visitor Center aus fahren wir entlang einer Sumpflandschaft und bestaunen die artenreiche Vogelwelt sowie zahlreiche Schildkröten, die in den Tümpeln neben der Straße sitzen oder schwimmen. Am Leuchtturm, der sich uns vor einem dramatischen Himmel präsentiert, gehen wir einen kurzen Trail – zum ersten Mal seit Wochen wieder bei hochsommerlichen Temperaturen. (Es ist erstaunlich, wie sich das Klima hier am Golf von Mexico schlagartig verändert. Wenige Abende zuvor saßen wir nicht weit entfernt noch mit Pullover am Lagerfeuer.) Nach einer knappen Meile erwartet uns an der Apalachee Bay karibisches Palmenflair. Ein kleiner Vorgeschmack auf die weiteren Tage in Florida und unsere Zeit in Belize.
Culture Clash und noch mehr Tiere
Die Nacht verbingen wir im Campground der Tillis Hill Recreation Area. Dort kommen wir erst nach Einbruch der Dunkelheit an. Eigentlich wollten wir nach den beiden Ausflügen keine derart weite Strecke mehr fahren, doch wir haben die Reservierungszahlen rund um Thanksgiving total unterschätzt: Nahezu alle öffentlichen Campingplätze sind die gesamte Woche über ausgebucht und wir sind froh, hier noch einen Stellplatz zu ergattern. Mit unserer Nachbarschaft haben wir an diesem Abend nicht ganz so viel Glück. Eine Gruppe Jäger, die sich den ganzen Abend lautstark mit vielen BOOMS über ihre letzten Abschüsse und Jagderfolge unterhalten. Und die nebenher – wie i.Ü. sehr viele US-amerikanische Camper:innen – ihr Lagerfeuer regelmäßig mit Spiritus anheizen. Was so gar nicht zu ihrer wildnistauglichen Ausrüstung und den Tarnfleck-Klamotten passt. Und es stinkt! Mit der guten Nachbarschaft ist es dann endgültig vorbei, als einer der Herren sein Ethanol auf unser Feuer draufkippt, obwohl ich ihm zuvor höflich zu verstehen gegeben habe: „Danke, nein! Das wird schon. In 15 Minuten haben wir ein Höllenfeuer. Einfach abwarten. Wir wissen selber ziemlich gut, wie das geht!“ Er nimmt uns offensichtlich nicht ganz ernst, was uns aber bei (vordergründig) harten Jungs mit Brennspiritus-Lagerfeuer ganz genauso geht. Ein echter Culture Clash!
Am nächsten Vormittag fahren wir in den Ellie Schiller Homosassa Springs Wildlife State Park. Wobei die Bezeichnung State Park ein wenig irreführend ist. Es handelt sich vielmehr um eine Auffangstation für verletzte und in der Wildnis nicht überlebensfähige Tiere. Verschiedene Vogelarten, Bären, Wölfe, Wild, Otter, Reptilien und ein Nilpferd finden hier ein neues, geschütztes Zuhause. Lediglich die springenden Fische und die Manatees sind aus freien Stücken hier. Sie schwimmen und treiben im natürlichen Flusszulauf des Parks. Die Anlage ist ziemlich in die Jahre gekommen, was wir den Gehegen und Gebäuden deutlich ansehen. So sind die Scheiben im Unterwasser-Observatorium nach vielen Jahrzehnten derart eingetrübt, dass man die Fische kaum wahrnehmen kann. Wir sehen allerdings überall Renovierungsarbeiten, was auf eine hoffentlich bessere Zukunft der Anlage hindeutet. Vielleicht wird dann eines Tages auch die alte Weihnachtsdekoration eingemottet und durch eine neue Variante ersetzt.
Happy Thanksgiving!
Schon wieder stehen wir vor der Frage, wo wir die nächsten beiden Nächte mit unserem Wohnmobil verbringen können. Es ist alles ausgebucht. Also zumindest die günstigen und landschaftlich schön gelegenen State oder County Parks. Zu weit ab vom Schuss wollen wir auch nicht fahren, da wir an Thanksgiving gerne essen gehen wollen. Mit unserer Mikrowelle im Wohnmobil bekommen wir den traditionellen Turkey eher nicht so gut hin. Wir beißen in den säuerlichen Apfel und buchen zwei Nächte in einem privat geführten RV Ressort in der Nähe von Tampa. Das ist zwar teuer und wir stehen zwischen lauter Long Term Residents mit ihren Mobile Homes, dafür gibt es einen Pool und in der Nähe ein Restaurant am Strand, wo wir unser Thanksgiving-Menü bekommen: Truthahn, Erbsenfülle, Kartoffelstampf und braune Soße. Das Essen erinnert uns mehr an Convenience Food als an ein Familiengeheimrezept, aber immerhin haben wir das Gericht auf dem Teller, das wie kein anderes zu Thanksgiving dazugehört. Später am Nachmittag setzen wir uns zur Verdauung an die Bootsrampe des Cockroach Bay Preserve State Park und betreiben einmal mehr Vogelbeobachtung. Nach einer Runde im Pool lassen wir den Abend vor unserer Tablet-Glotze bei einem Football-Spiel ausklingen. Noch so eine typische Thanksgiving-Tradition.
Unsere Entscheidung für das Hawaiian Isle RV Ressort bringt noch einen weiteren Vorteil mit sich: Wir sind ganz in der Nähe des Kohlekraftwerks Teco Big Bend Power Station. Das offene Becken vor dem Kraftwerk wird mit erwärmtem Kühlwasser gespeist und Jahr für Jahr von Dutzenden von Manatees als Hot Tub genutzt. Dank einer kostenlos zugänglichen Aussichtsplattform des Kraftwerk-Betreibers Tampa Electric können wir den wunderbaren Tieren schon wieder beim sanften sich Treibenlassen zuschauen – wenn auch nicht so nah und unmittelbar wie auf dem Wakulla River. Zusätzlich tragen ein springender Rochen und zwei Haie zum Unterhaltungsprogramm bei. Die sind allerdings zu schnell und zu weit weg, um sie auf Fotos festhalten zu können.
Ein letztes Mal Natur pur
Die letzten Tage in den USA verbringen wir in den Everglades, dem riesigen Sumpfgebiet im Süden Floridas. Wir hoffen, dass wir von den allgegenwärtigen Moskitos einigermaßen verschont bleiben und fangen dann mal an mit einer Alligator-Sichtungs-Strichliste. Gleich geht’s los, wir werden berichten.