Endlich wird es kühler. Zumindest für eine Nacht wird die für Finnland ungewöhnliche Hitzewelle durch einen kräftigen Regenschauer heruntergekühlt. Bei angenehmen Temperaturen können wir an unserem einsamen Rastplatz in der Nähe von Suomussalmi durchatmen. Auf fast 30 Grad Sommerhitze waren wir in einem der Nordischen Länder nun wirklich nicht eingestellt.

Das stille Volk

Wie die knapp eintausend Torfköpfe, die auf einer Wiese neben der Fernstraße E5 herumstehen, das mit dem Wetter wohl halten? Was sie wohl zu Hitze, Regen, Wind und dem vielen Schnee im Winter zu sagen hätten? Mit erschöpfenden Antworten auf diese Fragen ist nicht zu rechnen, schließlich handelt es sich hier um ein ganz besonderes Völkchen: Das stille Volk. Seit 1994 stehen sie hier, aufgestellt vom finnischen Tänzer, Choreographen und Künstler Reijo Kela. Zweimal im Jahr werden die Figuren neu eingekleidet, auch die Torfköpfe werden frisch gerichtet. Dann stehen anstelle eines Volkes für kurze Zeit knapp eintausend Holzkreuze auf der Wiese. Deren Bedeutung genauso geheimsnisvoll bleibt wie die des stillen Volkes insgesamt. Es obliegt den Betrachter:innen, eine jeweils ganz eigene Interpretation der ungewöhnlichen Installation zu suchen und zu finden.

Auf der kleinen Bärenrunde

Der Parkplatz am Start der kleinen Bärenrunde ist rappelvoll. Die Sonne ist herausgekommen, es ist Freitagnachmittag vor dem großen Juhannes-Fest und viele Menschen zieht es aus diesem Anlass in den Oulanka-Nationalpark in der Taiga bei Kuusamo. Uns ebenfalls, und wie die meisten hier gehen wir lediglich die knapp zwölf Kilometer kurze Runde, quasi die kleine Schwester der langen Mehrtageswanderung quer durch den gesamten Nationalpark. Der Weg führt uns vorbei an Wasserfällen, Stromschnellen, durch typisch finnische Wälder und entlang von unzähligen tiefblauen Seen. Eine traumhaft schöne Landschaft. Finnlands Naturschönheiten komprimiert auf wenigen Quadratkilometern. Eine tolle Tour, ein wunderbarer Trail. Nur ab und zu müssen wir uns einiger Attacken durch blutsaugende Stechmücken erwehren, aber die können den entspannten Nachmittag nicht trüben. Wieder zurück am mittlerweile leeren Parkplatz werfen wir noch einmal den Motor an und machen uns auf nach Kemijärvi, wo wir unsere erste Nacht in Lappland und hinter dem Polarkreis verbringen.

Mitternachtssonne

23.30 Uhr am Inarisee: es ist taghell, die Sonne steht über dem Wald am gegenüberliegenden Ufer und will einfach nicht hinter den Horizont sinken. Von der Mitternachtssonne zu hören, zu lesen oder Dokumentationen darüber im Fernsehen zu schauen, ist eine Sache. Dieses faszinierende Naturphänomen mit eigenen Augen zu sehen eine völlig andere. Wir könnten noch ewig am Seeufer sitzenbleiben, schließlich ist es hell und wieso sollten wir also ins Bett gehen? Der biorhythmisch verwirrte Kopf ringt mit dem müden Körper. Letztlich entscheidet die Vernunft: wir ziehen im Wohnmobil die Vorhänge zu, knipsen die elektrischen Lichter an und gaukeln uns vor, dass es draußen dunkel und somit Schlafenszeit ist. Das kann ja was werden in den nächsten Tagen und Wochen.

Rund um Inari begegnen wir nun immer öfter freilaufenden Rentieren. Einzeln oder in Verbänden sind sie auf oder neben den wenig befahrenen Straßen unterwegs. Hinter jeder Kurve muss tendenziell mit einem der weitestgehend domestizierten Hirsche gerechnet werden. Den Vogel schießt allerdings eine größere Gruppe ab, die sich im Pyhä-Luosto-Nationalpark vor Santa’s Hotel Aurora niedergelassen hat. Ausgerechnet! Seither hat das Hotel die härteste Tür in Lappland. Ihr kommt vermutlich leichter ins Berghain, als an diesem Kollegen hier vorbei!

Das Ren steht in Lappland seit vielen Jahrhunderten in enger Beziehung zum Volk der Samen. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts bildete die Rentierhaltung für eine lange Zeit die Lebensgrundlage für das indigene Volk auf der nordeuropäischen Halbinsel. Diese und viele weitere Information erfahren wir im modernen und sehr gut aufgebauten Siida-Museum. Gezeigt werden mit viel Sinn fürs Wesentliche kuratierte Gegenstände aus Geschichte und Gegenwart samischen Lebens, ergänzt durch multimediale Installationen und grandiose Fotografien, die uns eintauchen lassen in die Besonderheiten nomadischen Lebens im hohen Norden. Highlight der Ausstellung ist eine der letzten beiden Schamenentrommeln, die nach der Christianisierung Nordeuropas intakt in Lappland verblieben sind. Viele weitere Kult- und Kulturgegenstände wurden über die Jahrhunderte hinweg zerstört oder geraubt. Erst nach und nach finden sie im Zuge der Restitution ihren Weg zurück in die Obhut des samischen Volkes und samisch geführter Institutionen. Eine kulturpolitische Entwicklung, die seitens der Sammlungen, Museen und den relevanten Entscheidungsträger:innen unbedingt und überall auf der Welt weiter intensiviert werden muss.

Auf zum Ende der Welt

Kurz hinter Inari biegen wir rechts ab auf die Straße 971. Immer karger, dramatischer und abgefahrener wird die Landschaft. Einsam und weit ist es hier, die nächsten 120 Kilometer teilen wir uns lediglich mit wenigen anderen Menschen. Erneut geht es vorbei an unzähligen Seen, deren Wasser tiefblau und unergründlich scheint. Einige russische Autos kommen uns entgegen, verschiedene Landesgrenzen sind jetzt nicht mehr weit. Kurz hinter Näätämö ein Zaun, Schilder und Kameras. Ohne einen Menschen zu sehen, verlassen wir die EU, passieren eine ebenfalls menschenleere Zollstation, dann heißt es für uns: Hei Norge! Hei Kirkenes! Gefühlt sind wir am Ende der Welt angekommen. Also zumindest beinahe, denn ein bisschen weiter nördlich wird es für uns in den kommenden Tagen noch gehen.

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