Die zwei Tage in Jerevan hinterlassen bei uns gemischte Gefühle. Das hat zwar auch mit der armenischen Hauptstadt zu tun, die weitaus weniger beeindruckend ist als das abwechslungsreiche Tbilisi. Mehr aber sind es die Umstände, die uns den Aufenthalt erschweren. Henrik ist krank und verbringt die beiden Tage überwiegend im Hotelzimmer, um sich auszuruhen und seinen Infekt zu kurieren. Nach unserer Fahrt mit dem Nachtzug sind auch Amina und Junes ziemlich müde, und so geht der erste Tag nach einem leckeren Frühstück im Café und einem kurzen Spaziergang zum Platz der Republik unspektakulär mit im Bett liegen und schlafen vorüber.

Am zweiten Tag unseres Stadtaufenthalts machen sich Amina und Junes auf zur Kaskade von Jerevan, einem Komplex von Treppen und Wasserspielen und gleichzeitig ein beliebter Aussichtspunkt über der Innenstadt. Leider ist das Wetter mal wieder trübe, den Ararat in der Ferne sehen die beiden leider nicht. Dafür ein paar der Installationen und Skulpturen des Cafesjian Center for the Arts, einem Kunstmuseum mit Ausstellungsobjekten innerhalb und außerhalb der Kaskaden-Anlage. Im Anschluss schlendern die beiden noch eine Weile durch die Stadt und eine russische Mall. Die aber eher weniger beeindruckend ist, wie sie Henrik zurück im Hotel berichten.

Über Nacht ist es kalt geworden. Neuschnee liegt auf den Straßen und Dächern. Daher ruhen wir uns am Nachmittag einmal mehr im Zimmer aus. Die mittlerweile vierwöchige Reise durch den Winter zehrt doch mehr, als wir es vermutet hätten. Wir spüren deutlich, dass wir mit unseren Kräften haushalten müssen. Da kommen die warmen Suppen, die herrlich gewürzten Fleischgerichte und der nette, Deutsch sprechende Kellner im Restaurant Tavern Yerevan gerade recht. Damit päppeln wir uns am Abend wieder auf. Gesang, Musik und Tanz gibt es in dem gemütlich eingerichteten Kellerlokal gratis oben drauf. Ein schöner Abend und einer der vielen Tipps, die wir dem ausgezeichneten Reiseblog Wander Lush der australischen Reise-Bloggerin Emily Lush entnehmen. Eine tolle Infoquelle für unsere Reise durch den Kaukasus.

Nachdenklicher Besuch

Nach den beiden Tagen in der Stadt starten wir mit dem Mietwagen zu einem zweitägigen Ausflug rund um Jerevan. Unsere erste Station ist ein Besuch des Denkmalkomplexes Zizernakaberd, mit dem seit 1967 der Opfer des Völkermords an den Armenier:innen in den Jahren 1915 und 1916 gedacht wird. Im Zuge des ersten Weltkriegs wurden je nach Schätzung zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier:innen von der erst wenige Jahre an der Spitze des osmannischen Reichs stehenden jungtürkischen Regierung systematisch verfolgt, verhaftet, deportiert und umgebracht. Einer der ersten nach heutiger Datenlage eindeutig dokumentierten Genozide des 20. Jahrhunderts. Die Motive für dieses radikale Vorgehen sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt, die geplante Auslöschung des armenischen Volkes wurde ab dem Jahr 1915 allerdings gezielt und mit großer Brutalität vorangetrieben: Hinrichtung armenischer Soldaten im Dienst des osmannischen Heeres, Vernichtung der intellektuellen und politischen Elite, Massaker an der armenischen Bevölkerung, Versklavung armenischer Frauen und die Zwangsislamisierung armenischer Kinder. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurden die relevanten Personen der jungtürkischen Regierung von einem Militärgericht verschiedener Verbrechen schuldig gesprochen, eine internationale Aufarbeitung des Genozids als solcher fand jedoch erst viele Jahrzehnte später statt. Seitens der türkischen Regierung wird der Völkermord bis heute verleugnet, türkeiinterne Kritiker:innen der offiziellen staatlichen Sichtweise müssen mit Strafandrohung rechnen und setzen sich, wie der Fall des ermordeten Journalisten Hrant Dink zeigt, einer Gefahr für Leib und Leben aus.

Die von uns besuchten Denk- und Mahnmäler für menschenfeindlichen Irrsinn stimmen uns jedes Mal sehr nachdenklich und lassen uns mit viel zu vielen Fragen zurück. Im Fall des Zizernakaberd kommt hinzu, dass die systematische Vernichtung des armenischen Volkes umgehend Assoziationen mit den Verbrechen der Nazis und dem am jüdischen Volk verübten Holocaust weckt. Tatsächlich finden wir in der Ausstellung ein Zitat von Adolf Hitler aus dem Jahr 1939, der in einer Rede vor dem geplanten Überfall auf Polen davon spricht: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Der deutsche Diktator nahm den Völkermord an den Armenier:innen als Beispiel, dass selbst die schlimmsten Taten eines Tages in Vergessenheit gelangen und verleugnet werden können. Als Blaupause für das eigene mörderische Handeln.

Vom Pech mit den Bergen und vom Glück mit den Gastgeber:innen

So langsam sind wir persönlich beleidigt! Schon in Bulgarien und Georgien hat uns das Wetter in den Bergen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hier in Armenien fahren wir sogar zwei mal zum Kloster Chor Virap, um von dort aus den riesigen und bis auf über 5000 Meter hochragenden Ararat zu bewundern. Doch obwohl der Wetterbericht an beiden Tagen gute Bedingungen voraussagt, versteckt sich diese Zicke von Berg sowohl am ersten Nachmittag als auch am darauffolgenden Vormittag hinter einem Dunstschleier. Lediglich bei der Fahrt von Jerevan in Richtung Süden können wir kurzzeitig einen Blick auf die Spitze des ruhenden Vulkans erhaschen und sind davon bereits schwer beeindruckt. Kein Wunder – schließlich bewegen wir uns „nur“ auf knapp 1000 Meter Meereshöhe und ganz weit da oben über den Wolken pötzlich ein Stück schneebedeckten Fels zu sehen, ist schon gewaltig.

Eigentlich hatten wir vor, in der Nähe des Klosters zu übernachten, um am nächsten Morgen schnell wieder in Sichtweite des Ararat zu sein. Doch die gleichnamige Stadt an seinem Fuß macht uns überhaupt nicht an. Eine einigermaßen sympathisch wirkende Unterkunft gibt es auch nicht. Also entscheiden wir uns, den Nachmittag noch ein bisschen zu verlängern und fahren nach Areni, der Weinhauptstadt Armeniens. Was für eine gute Entscheidung. Zum einen dürfen wir die gemütliche Fahrt durch ein weißes Schnee-Wintermärchen genießen, indem wir uns im Licht der untergehenden Sonne immer höher eine Passstraße hinaufwinden. Zum anderen sind wir am Abend zu Gast bei Gohar und Manuk und ihren drei Töchtern. Diese betreiben das Guesthouse LiViTi in Areni. Das ist nicht ohne Grund bei Backpacker:innen und Reisenden sehr beliebt, wie die Fotowand im Eingangsbereich zeigt. Dabei gibt es die kleine und bescheidene Unterkunft gerade einmal seit Sommer 2022. Wir sind dort jetzt ebenfalls verewigt und das mit großer Freude. So freundlich und herzlich sind wir seit Januar noch in keinem Haus aufgenommen worden. Am Morgen bereitet uns Gohar ein original armenisches Bergfrühstück zu. Sensationell. Also: Wenn ihr mal nach Areni kommt, dann übernachtet im Guesthous LiViTi. Es lohnt sich!

Die Steine von Garni

Garni ist für uns die Stadt der Steine. Zunächst die natürlich geformten Basaltformationen in der Felsenschlucht unterhalb der kleinen Stadt, bekannt als Symphonie der Steine. Faszinierend sind die Strukturen an den turmhohen Felswänden, und sie sehen alles andere aus, als natürlich geformt. Als hätten Riesen oder Trolle sich hier künstlerisch betätigt, um ihre eigenen vier Wände etwas moderner zu gestalten als die Nachbarn in der Schlucht nebenan. An einem Sommertag würden wir hier sicher lange verweilen, die Köpfe in den Nacken legen und intensiv schauen. Doch es ist kalt, schneit dicke Flocken und ein eisiger Wind lässt die Hände beim Fotografieren gefrieren. Also schnell zurück zum Mietwagen und weiter zur nächsten steinernen Sensation: der Tempel von Garni. Erbaut im ersten Jahrhundert, zerstört durch ein Erdbeben im Jahr 1679 und zwischen 1966 und 1975 aus Originalmaterial wieder aufgebaut thront der griechisch-römische Tempel über der Schlucht und präsentiert sich als höchst fotogenes Motiv. Der Wiederaufbau ist aus den Augen von uns Laien sehr gelungen, ein Kleinod inmitten herrlicher Landschaft.

Knapp 10 Kilometer außerhalb von Garni noch ein steinerner Höhepunkt: das Kloster Geghard in einer Felsenschlucht, eingerahmt von hohen Bergmassiven. Die Anlage gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist nach langer Zeit des Verfalls seit einigen Jahren restauriert und für den Tourismus geöffnet. Dunkel ist es im höhlenartigen Kirchenbau, es herrscht eine fast mystische Stimmung. Mit den Taschenlampen ihrer Smartphones tasten sich die Besucher:innen durch die tief in den Fels getriebenen Seitenkapellen. Eine ganz besondere Erfahrung nach den vielen orthodoxen und mit Ikonen überladenen Kirchen, Kathedralen und Klöstern der letzten Wochen.

Bevor wir in der Nacht ins Flugzeug in Richtung Kasachstan steigen, steuern wir ein letztes Mal in die Innenstadt von Jerevan. Wir haben Karten für die Staatsoper Armenien, genauer für das Ballett Masquerade mit Musik des sowjetisch-armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan. Schön ist es im Opernsaal, wenn auch optisch bescheidener und akustisch nicht so gut, wie in den großen und bekannten Häusern der Welt. Gerade in Stuttgart sind wir diesbezüglich ja mehr als verwöhnt. Auch die Qualität der Darbietung, von der tanzenden Compagnie über das Orchester bis hin zur Regie und künstlerischen Gestaltung ist eher von durchschnittlichem Niveau (aber damit immer noch um Welten besser als alles, was der Herr Autor in seinem Leben musikalisch zu Wege gebracht hat – zumindest im Bereich klassischer Musik 🙂 ). Vielleicht erklärt das den insgesamt sehr mäßigen Besuch, immerhin an einem Samstagabend. Sie arbeiten dort aber auch mit bescheidenen Mitteln. Wir werden trotzdem gut unterhalten, lästern ein bisschen über die übertriebene Dramatik der Primaballerina und machen uns im Anschluss auf den Weg über das Kaspische Meer und zum nächsten Abenteuer.

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