Zerstörung und Wiederaufbau. So könnte man die Geschichte von Kolberg bzw. Kołobrzeg kurz und knapp zusammenfassen. Ganze vier Mal wurde die Stadt seit dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert mehr oder weniger vollständig niedergebrannt und durch Kampfhandlungen verwüstet. Das letzte und verheerendste Mal im Zuge der finalen Rückzugsgefechte des NS-Regimes im Jahr 1945. Nahezu 90 Prozent der Stadt wurden im Rahmen des sinnlosen deutschen Endkampfes zerstört. Mit der Einnahme Kolbergs durch polnische und sowjetische Truppen endete die nationalsozialistische Besatzung in der Stadt, die Joseph Goebbels 1943 als Drehort und historischen Bezugspunkt für einen monumentalen Propagandafilm auserwählt hatte. Dieser erzählt die Geschichte der erfolgreichen Verteidigung der preußischen Festung Kolberg im Jahr 1807 unter General August von Gneisenau und Bürgeradjutant Joachim Nettelbeck gegen die napoleonischen Truppen. Das propagandistische Durchhalte-Machwerk verschlang in der Produktion achteinhalb Millionen Reichsmark und wurde am 30. Januar 1945 in La Rochelle uraufgeführt – gerade einmal sieben Wochen vor der Befreiung Kolbergs am 18. März 1945.

Von der Schreckensherrschaft des Dritten Reichs sehen wir bei unserem Gang durch die Stadt keine Zeugnisse und Hinterlassenschaften. Dafür die unterschiedlichsten Bauwerke aus verschiedenen Stilepochen europäischer Architektur: das neugotische Rathaus aus den 1830er-Jahren, den Mariendom, erstmalig erbaut um das Jahr 1300, den 1948 auf den Überresten seiner Vorgänger errichteten Leuchtturm sowie die zwischen 1770 und 1774 erbaute Morast-Redoute auf der Salzinsel. Ganz sicher gäbe es noch unendlich viel zu entdecken, zu erkunden und zu lernen in einer Stadt mit einer derart wechselvollen Historie: z.B. über die sich permanent verändernden Machtverhältnisse und die damit verbundenen Auswirkungen auf Bevölkerungen in einem Europa, dass über Jahrhunderte hinweg durch Kriege, Landnahmen, Vetreibung und Flucht geprägt worden ist. Unsere noch ausstehenden Reiseziele im Blick, belassen wir es jedoch bei unserem blitzlichtartigen Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart von Kolberg und ziehen weiter in Richtung Osten, wo wir am Jezioro Gardno einen schönen Abend vor traumhafter Kulisse verbringen.

Im Land der Slowinzen

Der Slowinzische Nationalpark liegt im Osten Pommerns und ist eine dieser typischen Ostseelandschaften mit Wasser, Sandstrand, Dünen, Küstenwald und Sumpfgebieten im Hinterland. Er umfasst mit dem Lebasee außerdem das drittgrößte Binnengewässer Polens.

Wir nähern uns dem Park über die typischen schlaglochdurchzogenen Nebenstraßen in der pommerschen Provinz, zahlen unseren Eintritt und machen einen Spaziergang durch die Dünen hinunter zum Strand und entlang der See. Wirklich einsam ist es hier nicht, aber auch an einem Samstag vor Pfingsten ist wenig genug los, um ein tiefes Gefühl von Entspannung und Freiheit an diesem schönen Ort wahrzunehmen. Zurück geht es durch die Dünen und den Wald zum kleinen Leuchtturm Czołpino. Der misst zwar nur knappe 25 Meter, steht aber erhöht genug, um trotzdem eine wunderbare Aussicht über den Nationalpark und das Meer zu ermöglichen. Der Blick von oben offenbart uns allerdings auch, dass direkt neben dem Leuchtturm militärisches Sperrgebiet ist. Nun ja, Kaliningrad ist nicht mehr weit. Der direkte Weg zurück zum Parkplatz ist uns also verwehrt und wir müssen über einen längeren Umweg zurück zu unserem Ausgangspunkt.

Weiter geht die Fahrt ins kleine Kluki. Der größte Teil des Weilers mit insgesamt weniger als 100 Einwohner:innen ist heute als Freilichtmuseum begehbar. Gezeigt wird die traditionelle Lebensweise des verschwundenen bzw. weit verstreuten westslawischen Volks der Slowinzen, die hier als evangelisch-lutherische Volksgruppe über Jahrhunderte hinweg ihr angestammtes Siedlungsgebiet hatten. Beim Gang durch die gut erhaltenen Gebäude und vorbei an Schautafeln und Vitrinen ist die typisch protestantische Lebensweise mit Gottesfürchtigkeit, Arbeitsethik und dem weitestgehenden Verzicht auf Freizeit und Zerstreuung deutlich spürbar. Die Replikas der dunklen und strengen Trachten sowie die kurzen Videosequenzen mit nachgestellten Alltagssituationen vervollständigen und präzisieren diesen Eindruck, und das obwohl wir die ausschließlich polnischen Texte in der Ausstellung über das Alltagsleben der Slowinzen nicht lesen und verstehen können. Irgendwie fühlt es sich seltsam vertraut an, durch die Stuben und Küchen der Katen und Häuser zu schlendern. Was nicht verwundert, schließlich kommen wir selbst aus typisch pietistisch-protestantisch geprägten Landstrichen im Südwesten Deutschlands. Historisch-religiöse Gemeinsamkeiten über viele hunderte Kilometer, Sprach- und Landesgrenzen hinweg.

Trójmiasto

Danzig überfordert uns ein bisschen. Zu viel gibt es zu sehen und zu erkunden. Ein Übermaß an Geschichte, in die man tage- und wochenlang eintauchen könnte. Und dabei konzentrieren wir uns bereits auf eine der drei Städte, die gemeinsam als Agglomeration die sogenannte Dreistadt bilden: Gdańsk (Danzig), Gdynia (Gdingen) und Sopot (Zoppot).

Es ist Pfingstsonntag und in der Altstadt – auch bekannt als Rechtstadt – ist buntes Treiben angesagt: Menschen flanieren durch die Straßen, sitzen in den Straßencafés und Außenbereichen der Restaurants oder drehen eine Runde mit dem Riesenrad Amber Sky. In der riesigen Marienkirche, dem zentralen Gotteshaus der Rechtstadt, findet die sonntägliche heilige Kommunion statt. Bernsteinhändler:innen haben ihre Verkaufsstände mitten auf den Straßen aufgebaut. Jachten und Freizeitboote sind auf den Wasserstraßen unterwegs. Es wirkt, als wäre Danzig heute der Nabel der Welt, der Ort an dem alles stattfindet. Und das alles bei bestem Sommerwetter.

Wir folgen keinem festen Plan, lassen uns treiben, vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Innenstadt. Nach einem ausgiebigen Spaziergang kehren wir ein und genießen zum Mittag leckere Piroggen, frisches Brot und typisch polnische Aufstriche. Später am Nachmittag gilt unsere Aufmerksamkeit wieder einmal der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Tyrannei des Nationalsozialismus in Europa: wir besuchen das moderne und spannend erzählende Museum des Zweiten Weltkriegs. Wenn nicht hier, wo sonst. An dem Ort, an dem die größte Tragödie der europäischen Geschichte mit dem Überfall von Nazideutschland auf Polen am 1. September 1939 ihren Ausgang nahm. Den halben Nachmittag verbringen wir in den unterirdischen Ausstellungsräumen, unternehmen einen Parforceritt durch die Wirrungen dieser so nachhaltig prägenden Jahre. An die wir bereits an so vielen Orten auf unseren Weltreisen immer wieder aufs Neue erinnert worden sind. So wie vermutlich auch heute, wenn wir in wenigen Minuten das Gelände des ehemaligen KZ Stutthof besichtigen werden.

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