Mit dem Grenzübertritt nach Litauen sind wir im Norden Europas angekommen. Wobei das offensichtlich gar nicht so eindeutig ist, wie wir dem Wikipedia-Artikel über das Baltikum entnehmen. Egal, für uns ist es ab jetzt die lang ersehnte Nordland-Reise. Und die passende Überschrift eine schöne Reminiszenz an den gleichnamigen und großartigen Song von The Music.

Trakai und die Karäer

Klingt nach einem halbwegs spannenden Titel für einen historischen Abenteuerroman im Stile von Karl May, ist in Wahrheit jedoch eines der absoluten Highlights für Litauen-Besucher:innen: Die kleine Stadt Trakai ist zum einen bekannt für die Wasserburg, eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Litauens. Zum anderen war und ist Trakai seit dem Ende des 14. Jahrhunderts eines der wichtigsten Zentren für die turksprachige Volksgruppe der Karäer, eine kleine eigenständige jüdische Religionsgemeinschaft mit Anleihen an den Islam. Heute noch sieht man im Viertel „Kleine Stadt“ viele karaitische Häuser, typischerweise mit dem Giebel der Straße zugewandt. Erhalten ist außerdem das Gebetshaus der Karäer, die karaitische Kenessa. In den Restaurants der Stadt wird das karaitische Nationalgericht Kibinai nach uralten Familienrezepten zubereitet und serviert. Dazu für Junes ein gezapftes Kwas. Wir sind einmal mehr im siebten Himmel lukulischer Genüsse angekommen.

Auf dem Weg zurück zum Wohnmobil schauen wir bei den farbenfrohen Gesangs- und Tanzaufführungen der einheimischen Kinder und Jugendlichen zu, die vor der grandiosen Kulisse der Wasserburg heute ihre großen Auftritte haben. Sie sind Teil verschiedener Feierlichkeiten, die das ganze Wochenende über in Trakai stattfinden. Wir jedoch verabschieden uns, es zieht uns weiter in die nahe gelegene Hauptstadt.

Solidarität

Vilnius ist gefühlt eine einzige Solidaritätsbekundung mit dem Land Ukraine und seinen Menschen. Kein Wunder bei der Geschichte Litauens von Krieg und mehrfacher Besatzung, Wiedererlangung der Unabhängigkeit und anschließendem Beitritt zu EU, NATO, zum Schengen-Raum und zur Eurozone. Vor offiziellen Institutionen, auf den Anzeigetafeln der Linienbusse, an Häusern, in Geschäften oder Restaurants: die ukrainischen Nationalfarben sind allgegenwärtig, genauso wie öffentlich sichtbare Aussagen wider den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg von Russland auf ein freies Land: „Putin, The Hague is waiting for you!“. Auch die Bierbrauer machen mit, was insbesondere Henrik sehr freut. Und es ist schwer anzunehmen, dass die Brauerei Zoller-Hof aus Sigmaringen mit dem Slogan „Brewers against War“ ebenfalls sehr einverstanden sein dürfte. Wir staunen nicht schlecht, inmitten der hübschen Altstadt von Vilnius auf Bierspezialitäten aus dem Donautal zu treffen. 🙂

Überhaupt staunen wir an unserem Tag in der Hauptstadt ganz schön, wie angenehm, freundlich, abwechslungsreich und einladend dieses Vilnius doch ist. Zumindest der Bereich rund um die wunderschön hergerichtete Altstadt, wo wir unseren Spaziergang unternehmen: historische Gebäude wechseln sich ab mit dem alternativen Künstler:innenviertel Užupis (seit 1997 selbsternannte eigenständige Republik mit eigener Verfassung) oder spannenden Orten wie dem Tibetischen Platz (an dem wir eine buddhistische Weisheit lesen, die gleichsam Motto so mancher Umwege auf unseren Weltreisen sein könnte: „Remember that sometimes not getting what you want is a wonderful stroke of luck.“). Unzählige Kirchen und Gotteshäuser prägen das Straßenbild, alle paar Meter kommen wir an einem der prachtvollen Sakralbauten vorbei. Und sehen am Ende doch nur einen Teil davon. Alleine mit der Besichtigung aller geistlichen Monumentalbauwerke könnte man locker einen kompletten Tag in Vilnius zubringen. Und würde noch viel mehr Zeit benötigen, wären nicht im Zuge des Zweiten Weltkriegs über einhundert Synagogen systematisch zerstört worden und seither für immer verloren.

Das gesamte Jahr über findet in Vilnius die Feier anlässlich des 700-jährigen Bestehens der Stadt statt. Überall im Stadtgebiet stehen Bühnen, wird Musik gespielt und sind kulturelle Veranstaltungen zu sehen. Fast ein wenig schade, dass wir kaum die Zeit haben, tiefer in das Programm einzutauchen. Aber vielleicht habt ihr ja Lust bekommen, das Jahr 2023 geht ja noch eine ganze Weile. Lohnen wird sich ein Besuch in jedem Fall.

Besatzung

Den zweiten Teil unseres Tages in Vilnius verbringen wir nicht in der pittoresken Altstadt,sondern an einem weitaus weniger schönen Ort. Wir besuchen das Museum of Occupations and Freedom Fights im ehemaligen KGB-Gebäude, welches von den Institutionen der Sowjetunion und in den Zeiten der nationalsozialistischen Besatzung von der Gestapo genutzt wurde. Es ist schon ein übler Winkelzug der Geschichte, dass sich hier in der Aukų gatvė die schlimmsten ausführenden Organe zweier brutaler Besatzungsregime quasi die Klinke in die Hand gegeben haben. Drei direkt aufeinanderfolgende Besatzungen in 51 Jahren (1940 bis 1941 durch die Sowjetunion, 1941 bis 1944 durch Nazideutschland, 1944 bis 1990 erneut durch die Sowjetunion) sowie einen am Ende erfolglosen Partisanenkampf hatten die Menschen in Litauen zu überstehen. Unzählige Deportationen und hundertausende ermordete Menschen waren zu beklagen, bis sich das Land 1990 als erste Unionsrepublik der Sowjetunion zum souveränen Staat erklärte und seine Freiheit zurückerlangte:

„Although the country’s people had suffered greatly … they did not accept the Soviet power which had been brutally imposed on them. They only adapted themselves to the regime. … People did not give in to the policy of Russianisation, attempts to erase the past and make them give up the Christian beliefs … . Even under total surveillance and brutal persecution of people with other convictions, there were those who risking their freedom or even their lives were determined to fight against the regime and protect human rights. Although there were not many of them, their resolute stand and activities served as a moral example for many others and helped to keep the hope for freedom and independence alive. When the process of democratisation started in the Soviet Union, Lithuania was the first to re-establish independence on 11 March 1990. The Soviet military, how- ever, tried to stop the peaceful freedom march. In 1991, 23 people died and almost a thousand were injured or suffered other damage defending the country’s independence. Lithuania is working for its future remembering the price of freedom and independence.“

Neben den Ausstellungsräumen kann man im Keller des Museums den original erhaltenen Zellentrakt des ehemaligen KGB-Gefängnisses besichtigen. Ein bedrückender und beklemmender Ort. Wir sehen Boxen, in denen Gefangene aufgrund der Enge ausschließlich stehen konnten, Dunkelzellen ohne Tageslicht, eine schallisolierte Gummizelle mit Zwangsjacke, verschiedene Folterkammern und schließlich den Ort, an dem KGB-Offiziere auf kaltblütige Art und Weise Hinrichtungen ausgeführt haben. Heftig. Wieder so ein schrecklicher Ort, von denen wir schon so viele gesehen haben. Wieder ein prägendes und bleibendes Erinnerungsstück mehr im Sammelkasten unserer Weltreisen.

Landleben

Im kleinen Städtchen Rumšiškės besuchen wir am nächsten Tag das Litauische Freilichtmuseum. Gezeigt werden Gehöfte mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden sowie ein Kleinstadtensemble, zusammengetragen aus den verschiedenen Regionen Litauens vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Einblick in vergangene Zeiten und das frühere Leben auf dem Land. Die Anlage ist weitläufig, der Rundweg stattliche sieben Kilometer lang und so wird aus dem Museumsbesuch gleichzeitig eine kleine Wanderung. Wir erwischen einen perfekten Tag mit strahlend blauem Himmel und entsprechend grandiosen Farben. Die Nacht haben wir auf dem Parkplatz direkt vor den Toren des Museums verbracht, daher sind wir am Morgen mit die Ersten auf dem Gelände. So haben wir die wunderbar hergerichteten Gebäude fast ganz für uns alleine. Ein schöner Ausgleich zu unserem trubeligen und emotional berührenden Tag in Vilnius.

Nach diesem erfrischenden Ausflug in die Vergangenheit wird es für uns Zeit, an die Ostsee zurückzukehren. Wir wollen auf die Kuhrische Nehrung, die Halbinsel zwischen dem russichen Kaliningrad und Klaipeda in Litauen. Doch vorher genießen wir erst einmal den Sonnenuntergang am schönen Campingplatz in Dreverna. Fast ein wenig kitschig und doch wunderschön geht unsere Woche zu Ende.

4 Kommentare

  1. Lieber Henne,
    die allerbesten Wünsche zum Start ins 6. Lebensjahrzehnt!
    Ich freu mich auf deine Reiseberichte. Vor knapp 20 Jahren bin ich mit Wolfi und Stephan Merder mit dem UN-Golf über Nordpolen/Masuren und Litauen/Lettland nach Estland gefahren und erkenne in deinen Beschreibungen und Fotos viele Stationen wieder.
    Viele Spaß weiterhin und lasst es krachen – fühle mich geehrt, dass ihr mein Festchen einbauen konntet und es sogar erwähnt wurde!
    Grüße Elle

    1. Lieber Elle,
      vielen Dank für die Glückwünsche.
      Mensch, vor 20 Jahren. Da waren die baltischen Länder sicher noch nicht ganz so komfortabel zu bereisen wie heute, so stelle ich mir das zumindest vor. Wobei … mit einem Fahrzeug der UN wurdet ihr vermutlich überall durchgewunken und hofiert 🙂 .

      Viele Grüße, Henne

  2. Hallo ihr Drei!
    Ich habe mir unsere Reise durch Polen etwas zurück in Erinnerung gerufen.
    Die Baltischen Republiken haben wir nicht besucht, so warte ich, was ich durch eure Augen zu lesen und sehen bekommen werde.
    Auf jeden Fall hat es schön angefangen, auch das Wetter spielt mit, wie es scheint.
    An Kirchen mangelt es in Vilnius anscheinend nicht, und auch sonst habt ihr schon einiges an Kultur und Geschichte sehen können.
    Habt gute Fahrt, ich freue mich auf die Fortsetzung.
    Liebe Grüße,
    Jindra

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