Kurz vor 11 Uhr startet am Montagvormittag ein kleiner rumänischer Dieseltriebwagen von Bukarest Nord in Richtung Giurgiu und bulgarische Grenze. Wir sind zunächst verwundert, haben wir doch hochoffizielle internationale Eisenbahnfahrkarten mit Sitzplatzreservierungen in unseren Händen. Doch tatsächlich finden sich in dem kleinen Zug, der in Deutschland maximal als Regionalbahn auf einer Nebenstrecke fahren würde, Sitzplatznummern – wenn auch teilweise mit Edding an die Wand gemalt. Ein Stück Klebeband hält die neuralgischen Stellen der teils durchgehend gerissenen Scheiben zusammen, und so schaffen wir es nach erfolgreichem Bestehen der rumänischen Grenzkontrolle und einer Fahrt auf der Freundschaftsbrücke über die Donau bis in die bulgarische Grenzstadt Russe. In Russe werden die Pässe aller Reisenden von zwei freundlichen Grenzbeamt:innen an der Zugtüre eingesammelt und mitgenommen. Unser kleines Häufchen von knapp 30 Personen harrt im Anschluss auf dem zugigen Bahnsteig der Dinge, die da noch kommen werden. Am Ende verläuft alles ziemlich unspektakulär, die Pässe kommen zurück und werden von den Grenzbeamt:innen wie bei einer Klassenfahrt an die Wartenden verteilt: … BLAICH … RAMADAN … KOWALSKI … Nach weiteren sechs Stunden Geschaukel und Geruckel im weich gepolsterten erste Klasse Abteilwagon der bulgarischen Staatseisenbahn erreichen wir um 20.30 Uhr die Hauptstadt Sofia.
Sofia – mon amour
Ich wollte ja schon immer mal nach Bulgarien und speziell nach Sofia, allerdings ohne eine konkrete Vorstellung davon zu haben, wieso. Vielleicht eine Art von Vorahnung, denn die Stadt gefällt uns allen ausgesprochen gut. Es geht gelassen und entspannt zu, die Hektik und den Stress anderer Großstädte suchen wir vergebens. Der ÖPNV ist mit knapp 2 Euro für ein Tagesticket selbst für osteuropäische Verhältnisse spottbillig, die Metrozüge und Straßenbahnen fahren in hoher Taktung und alles in der Innenstadt wirkt sauber und gepflegt. Nach den heftigen Eindrücken von Bukarest eine sehr angenehme und wohltuende Erfahrung.
Bei unserem Stadtrundgang mit Free Sofia Tour sehen wir alle wichtigen historischen Gebäude und erfahren von unserem Guide Dino viele Hintergründe zur Geschichte Bulgariens und der Hauptstadt, die unter dem Namen Serdica eines der bedeutendsten Zentren des römischen Reichs auf der Balkanhalbinsel war. Es würde den Rahmen dieses Blogs und meine Zeit zum Schreiben sprengen, alle Details der thrakischen, römischen, osmanischen, bulgarischen, christlichen, jüdischen, muslimischen, kommunistischen und aller weiteren Geschichten hier aufzuschreiben, durch die Sofia im Laufe der Jahrhunderte gegangen und geprägt worden ist. Spannend sind diese aber in jedem Fall, und wer schon länger auf der Suche nach einem alternativen Städtetrip zu London, Paris, Barcelona oder Berlin ist: Go for Sofia! Wenn ihr rechtzeitig plant, schafft ihr es vielleicht – anders als wir – in eines der Gastspiele von internationalen Stars im Nationaltheater. John Malkovich wird leider ohne uns im Publikum in Sofia auftreten.
An Nachmittag unternehmen wir auf eigene Faust noch einen kurzen Bummel durch einen Park, der uns sowohl am Nationalstadion als auch am Stadion von ZSKA Sofia vorbeiführt. Als alte Fußballfans machen wir einen kurzen Stop und schauen uns die Stickergalerie vor dem Fanshop an. Darunter finden wir einige äußerst zweifelhafte bis hochproblematische Motive. Eine Erinnerung daran, dass gewaltorientierter rechtsextremer Hooliganismus besonders in den osteuropäischen Ländern immer noch eine negative Begleiterscheinung beim Fußball ist.
Mit dem Mietwagen in die Berge
Am nächsten Morgen machen wir uns für zwei Tage auf in die Berge. Mit dem Mietwagen geht es nach Süden, genauer gesagt nach Rila, zum gleichnamigen Kloster und in den angrenzenden Nationalpark. Das im 10. Jahrhundert gegründete Kloster des Heiligen Iwan Rilski gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe und ist einer der zentralen touristischen Spots in Bulgarien. Umso schöner für uns ist, dass jetzt im Winter so gut wie keine anderen Besucher:innen vor Ort sind und wir die gesamte Anlage fast für uns alleine haben. Ein echter Luxus, denn so können wir die wunderschöne Architektur, die grandiosen Fresken und das Museum ungestört und mit viel Ruhe genießen. Besonders beeindruckt uns „Raffails Kreuz“ ein absolutes Meisterstück filigraner Schnitzkunst, bei dem auf 80 mal 40 Zentimeter über 100 biblische Szenen in Miniaturen zu sehen sind. Gefertigt in jahrelanger Kleinarbeit von einem Mönch, der sein Werkstück Tag fürTag im Millimeter-Bereich bearbeiten musste. Fotografieren ist im Museum allerdings streng verboten, wir werden die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtet, daher muss an dieser Stelle ein Link zu einem Bild des Kreuzes im Internet ausreichen. Uns bleibt die Erinnerung an ein einmaliges und reichlich unbekanntes Stück herausragender sakraler Kunstgeschichte.
Auf dem Weg zurück ins Tal kehren wir in einer urigen, heimeligen und unglaublich gemütlichen Gaststätte ein. Wir sind die einzigen Gäste im kleinen Wirtshaus und Wirt und Wirtin bedienen und verköstigen uns mit ihrer Hausmannskost auf das vorzüglichste. Stuttgart kennen die beiden auch, denn wo „Mercedes“ gebaut wird, weiß man auch hier. Wir sollen ihr Restaurant weiterempfehlen, und das tun wir nur zu gerne. Also, wenn ihr mal zum Kloster Rila fahrt, geht im Anschluss im Restaurant Pastra vorbei.
Berghütte of Horrors
Ein Sessellift, schneebedeckte Nadelbäume, Berggipfel. Eigentlich finden wir im Nationalpark Rila alles vor, was es für einen ansprechenden Wintertag in den Bergen benötigt. Doch anders als in Brașov ist uns das Wetter dieses Mal nicht hold. Was i.Ü. eine Konstante der ersten beiden Wochen unserer Asienreise ist. Auf 2.300 Metern angekommen sehen wir leider, dass wir nichts sehen. Damit erübrigt sich auch jeder Gedanke, eine Winterwanderung zu den sieben Rila-Seen zu unternehmen. Dann doch lieber Mittagessen in der warmen und urigen Berghütte. Dachten wir jedenfalls. Doch kurz vor 12 Uhr ist in der Hütte kaum Leben in Sicht. Einige unausgeschlafene und zerknitterte Angestellte schleichen durch den Gastraum und ignorieren uns. Es ist kalt, düster und ungemütlich. Das wenige Essen am heißen Buffet sieht aus, als ob es dort schon länger liegt. Dann doch lieber Müsliriegel und Banane. Mit Müh und Not schafft es Amina, einen Instantkaffee für sich und eine Cola für Junes zu organisieren. Der „Barkeeper“ schafft es dabei, den gesamten Prozess von der Bestellung bis zur Bezahlung ohne ein Wort zu absolvieren. Ab und an wiegt er seinen Kopf nach links, was wir als Bejahung unserer Fragen betrachten. Mehr Kommunikation möchte er uns nicht zugestehen. Wir sind hier sichtlich nicht gewollt und beeilen uns, diesen reichlich gruseligen Ort und die unangenehmen Menschen darin zügig zu verlassen. Nicht, dass wir Ende noch Bekanntschaft mit Norman Bates machen müssen.
Nachtzug, der Zweite
Der Sofia-Express wartet auf uns. Wir fahren mal wieder mit dem Nachtzug. In elf Stunden von Sofia nach Istanbul. Im wunderbar geräumigen Schlafwagen der türkischen Eisenbahngesellschaft TCDD. Mit bulgarischen Verantwortlichen und türkischen Schaffnern (ja, alles Männer), die das Konzept Schlafwagen nicht ganz verstanden haben. Die ganze Nacht durch sind die Bediensteten lauter als sämtliche Fahrgäste zusammen. Mit Grenzkontrollen mitten in der Nacht. Und mit einer wohltuenden Verspätung von über zwei Stunden, so dass wir am Ende doch noch einigermaßen ausreichend Schlaf bekommen.
Was wir in Istanbul alles sehen, wie Henrik ein kleines Deja-Vu erlebt („You’re on the wrong ship“) und wieso unsere Reisepläne in Richtung Georgien plötzlich ins Wanken geraten – davon erzählen wir beim nächsten Mal.
Merke: Wer in Europa eine Asienreise macht, muss mit Dauerregen rechnen.
Die Geschichte mit der Gruselhütte regt meine Fantasie an- was machen die da, wenn keiner hinguckt?
So wie die um die Mittagszeit ausgesehen haben möchte man gar nicht so genau wissen, was die in der Nacht davor alles gemacht haben 🙂
Boah, das ist ja ein richtiger cliffhanger! Bin gespannt, wie es weitergeht
Wie mein Vorgänger, bin ich auch gespannt, wie es weiter geht.
Wie ist der Zeitplan, und was steht überhaupt auf dem Reiseplan insgesamt.
Oder es wurde schon irgendwo verraten, und ich habe es nicht mitbekommen?
Sofia steht schon lange auf meiner Liste, schön, dass ich hier darüber etwas lesen konnte.
Weiterhin gute Fahrt!
Wir reisen jetzt erst einmal weiter nach Georgien und Armenien, dann durch einen Teil Zentralasiens. Lasst euch überraschen 🙂