Sie haben uns im Hotel Aviatrans tatsächlich in Raum 101 einquartiert. Mal schauen, wie die kommende Nacht wird. Unsere erste in Jerevan. Alpträume wie in George Orwells „1984“ können wir gar nicht gebrauchen. Wir sind ein wenig müde und ermattet. Henrik kränkelt seit der letzten Nacht vor sich hin. Und das, obwohl wir im topmodernen armenischen Nachtzug sehr komfortabel von Georgien hier her gereist sind. Mit angenehmen, ruhigen Mitreisenden. Und zwei sehr entspannten Grenzkontrollen, die kurz nach Mitternacht dann auch erledigt waren und alle im Zug schlafen gehen konnten. Es ist gut, dass wir es heute im Hotel ruhig angehen lassen und das Sightseeing auf Morgen verschieben können.
Im georgischen Nationalmuseum
Die Dauerausstellungen im Nationalmuseum in Tbilisi geben nicht allzuviel her, die sogenannte Soviet Occupation Hall im vierten Stock dafür umso mehr. Nach unserem Besuch in Gori wollen wir diese Ausstellung als Gegenpol zum Stalin-Museum unbedingt sehen und sind beeindruckt und berührt von der Art und Weise, wie 70 Jahre sowjetische Besatzung in Georgien dargestellt und anhand von Einzelschicksalen erzählt wird. Besonders ein Zitat aus dem Jahr 1921 bleibt in Erinnerung. Mit diesem wird schlagartig ein Zusammenhang zwischen den Ereignissen damals und der aktuellen Situation rund um Russlands neo-sowjetische Großmachtsvorstellungen sichtbar. Die folgenden Bilder sprechen für sich. Wollen wir hoffen, dass es für die Georgier:innen und alle anderen Bürger:innen der ehemals durch die Sowjetunion annektierten Länder knapp 100 Jahre nach 1921 nicht noch einmal so weit kommt.
Vertraute Stadtgefühle
Fast wie in Stuttgart ist es hier, eine uns wohlvertraute Topographie zeichnet Tbilisi aus. Immer geht es irgendwo den Berg rauf, es gibt (Stand-)Seilbahnen, Heilbäder und ganz oben auf dem Berg Mtazminda steht der Fernsehturm. Entsprechend können wir mehrmals während unseres Aufenthalts von oben hinunter auf die Stadt und ihre bauliche Zusammensetzung blicken. Altstadt trifft Moderne trifft kommunistischen Brutalismus. Auch das kennen wir von Stuttgart, wobei der Asemwald und Fasanenhof in einem völlig anderen politischen System entstanden sind. In jedem Fall sind unsere Spaziergänge und -fahrten durch Tbilisi sehr abwechslungsreich. Man kann sich gut mehrere Tage durch die verschiedenen Viertel bewegen, ohne das einem langweilig wird.
Noch eine Gemeinsamkeit gibt es zwischen Stuttgart und Tbilisi: Ähnlich wie in der Konrad-Adenauer-Straße im Herzen unserer Landeshauptstadt reiht sich in der Rustaveli Avenue ein wichtiges Gebäude an das nächste: von der Oper über das Rustaveli-Theater und verschiedene Museen bis hin zum georgischen Parlament. Leider ist der Autoverkehr auf dieser zentralen Straße genauso schlimm wie auf der vierspurigen B14 in Stuttgart, so dass das nichtmotorisierte Leben entlang der Prachtbauten auf die Gehwege zurückgedrängt ist. Ein (leider) vertrautes und lautes Dahinschlendern entlang der schönen Fassaden.
In anderen Teilen der Stadt geht es etwas ruhiger zu, wobei der Autoverkehr allgegenwärtig ist. Lediglich oben auf den Hügeln und an den Aussichtspunkten ist es weniger. Autofreie Zonen gibt es allerdings nirgendwo, was die Tage am Ende immer etwas anstrengend macht. Abends sind wir froh, nach unseren Besuchen in der Altstadt, auf der Festung und am Fluss Kura wieder in die Ruhe unseres Hotelzimmers mit dem schönen Blick über die Stadt zurückkehren zu können.
Kleine Flitzer und schicke Schlitten
Den beiden Autonarren in der Famlie zuliebe unternehmen wir einen Ausflug ins Tbilisi Automuseum (ha, noch eine Gemeinsamkeit zu Stuttgart 🙂 ). Das liegt ziemlich außerhalb und wir kurven mit kleinen und großen Bussen bis zu einer Haltestelle mitten in einem heruntergekommenen Gewerbe- und Wohngebiet. Zu Fuß geht es weiter über eine staubige Straße, an deren Ende allerdings kein mondäner KFZ-Tempel wie in Bad Cannstatt oder in Zuffenhausen steht. Viel mehr erwarten uns zwei unscheinbare Lagerhallen, in denen herausgeputzte, gepflegte und vor allem zugelassene Oldtimer dicht an dicht gedrängt stehen: kleine Flitzer von Zaz, Izh und Moskvich, die großen Limousinen der Marke GAZ, einige Seitenwagen-Motorräder sowie dazwischen als Ergänzung einige westliche Fabrikate. Auf dem Hof steht noch ein alter Mercedes /8, der auf seine Restaurierung wartet. Ein kleines, feines und sehr interessantes Museum. Diese Autos bekommen man in Westeuropa sicher nirgendwo live und in Farbe in diesem Zustand und dieser Fülle zu sehen.
Impressionen
Neben all den großen Sehenswürdigkeiten, Prachtbauten, Museen und Aussichtspunkten gefällt uns Tbilisi ganz besonders wegen der vielen kleinen Impressionen, die man überall in der Stadt sehen kann. Sehr offensichtlich zeigt sich gerade an vielen Orten der Stadt eine große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Deren Nationalfarben findet man an Fassaden, Plakatwänden, Zäunen und überall, wo man Solidarität sichtbar machen kann. Yoko Ono und John Lennon begegnen uns schon wieder. Von den netten kleinen Cafés und Bäckereien haben wir bereits kurz berichtet. In denen ruhen wir uns aus, wenn der Tag draußen lang und frostig kalt gewesen ist.
Fast ein Lost Place
Wir wussten ja, dass da irgendwo ein Riesenrad steht. Schließlich haben wir es drei Abende lang von der Straße vor unserem Hotel aus neben dem Fernsehturm leuchten sehen. Doch als wir durch den verschneiten Vergnügungspark Mtazminda auf dem gleichnamigen Berg schlendern und sich im Nebel plötzlich ein geräuschlos drehendes, gleichzeitig menschenleeres Riesenrad vor uns auftut, ist das schon gruselig und wie schon in Bulgarien haben wir wieder einen Norman-Bates-Moment.
Eigentlich sollten wir gar nicht hier sein, sondern in Stepanzminda mitten im Kaukasus, umgeben von 4000ern und meterhohem Schnee. Doch genau dieser wird unserem geplanten zweitägigen Ausflug in die Berge zum Verhängnis. Es schneit wie blöd und die Straße gen Norden ist wegen Lawinengefahr gesperrt. Zumal die Sichtverhältnisse einen Ausflug in die Berge nicht gerade lukrativ erscheinen lassen, wo man schon hier im georgischen Tiefland kaum ewas sehen kann. Also stornieren wir den gebuchten Mietwagen und fahren statt ins Gebirge hinauf zum Vergnügungspark, der bei diesem Wetter fast wie ein Lost Place wirkt. Nicht nur das Riesenrad, auch rund um die Achterbahn wirkt alles wie ausgestorben. Kein Wunder bei Nebel, Schneeregen und 11.30 Uhr unter der Woche. Umso verwunderlicher, dass die Anlage tatsächlich in Teilen geöffnet hat. Nicht nur das Riesenrad ist in Betrieb, auch an der Schießbude wartet eine Dame auf Kundschaft. Wenn wir höflich fragen, würde man wahrscheinlich auch die Achterbahn eine Runde für uns fahren lassen. Das wollen wir aber gar nicht, lieber einmal mehr lecker essen. 🙂 Was für ein Glück, dass das kleine Restaurant Georgian Cuisine geöffnet hat und wir dort einen frisch gegrillten Kebap serviert bekommen. Also wenn ihr mal in diesen Vergnügungspark kommt …. 🙂
coole Bilder
Danke!
Die Einheimischen erzählen sich, dass bei Riesenradfahrten im Nebel Menschen verschwunden sind…. Deshalb ist der Vergnüngspark auch seit 1961 geschlossen. Sicher, dass Ihr da jemanden gesehen habt? Die Dame am Schießstand war damals eine der letzten Mitarbeiterinnen und ist kurz vor der Schließung auf mysteriöse Weise verunfallt.
Fast hätten wir es probiert mit dem Riesenrad …