Wir sind richtige Stubenhocker geworden. Also vielmehr Hotelhocker. Aber so ist das nunmal, wenn man tagelang Zug fährt, zu nachtschlafender Zeit in fremden Ländern und Städten ankommt, ständig Zeitverschiebungen mitmacht (gerade sind wir fünf Stunden voraus) und es draußen kalt und grau ist. Da kommt es wie gelegen, dass in unserem Hotel in Schymkent der Check-in rund um die Uhr möglich ist und – noch viel besser – der Check-out erst 24 Stunden später erfolgen muss. Hier bucht man das Zimmer nicht pro Nacht, sondern exakt für 24 Stunden. Für uns ein Segen, da wir nach knapp 40 Stunden Zugfahrt erst gegen halb ein Uhr nachts hier ankommen und den halben Tag (und das Frühstück) erst einmal entspannt verschlafen können. Am Abend steht bereits die nächste Fahrt mit dem Nachtzug an: nach Taschkent in Usbekistan. Wieder ein neues Land und wieder eine andere Zeitzone.
Am Kaspischen Meer
Auch nach unserer Ankunft in Kasachstan vor einigen Tagen zieht es uns erst einmal ins Hotelzimmer. Wir landen in Aqtau um vier Uhr am Morgen Ortszeit. Dann Passkontrolle, Gepäckausgabe, beim freundlichen Verkäufer am Kiosk eine SIM-Karte organisieren und registrieren, 30 Minuten wilder Ritt mit dem Taxi über die leere und schnurgerade Straße Richtung Zentrum und zu guter Letzt einchecken im Hotel „Drei Delfine“. Um halb sieben fallen wir erschöpft in die Betten und schlafen uns erst einmal aus. Was für eine Wohltat! Das können wir im Übrigen deswegen machen, da wir schon wieder unsere Pläne über den Haufen geworfen haben. Statt noch am selben Tag mit dem Zug nach Beineu und von dort mitten in der Nacht nach Nukus in Usbekistan zu fahren, entscheiden wir uns für den langen Weg einen Tag später außen herum nach Schymkent. Damit verabschieden wir uns zwar von einigen spannenden Reisezielen in Usbekistan, bekommen aber eine echt lange und für das riesige Land Kasachstan typische Reise mit dem Zug als Ersatz: Fast zwei Tage durch die kasachische Steppe, vorbei an Kamelen, Pferden, Rindern und Schafen. Die Entdeckung der Langsamkeit. Und das alles in unserem eigenen Vierer-Schlafwagenabteil.
Zunächst aber Aqtau: am Nachmittag machen wir uns auf, die Stadt am Kaspischen Meer zu erkunden und spazieren am Strand und an der Promenade entlang. Sehr viel Hübsches gibt es hier nicht, doch die Stadt entfaltet einen gewissen Charme. Und das trotz des typischen post-sowjetischen Verfalls, der insbesondere an den Plattenbauten und der Infrastruktur sichtbar wird und den wir so auch in Georgien und Armenien gesehen haben. Vielleicht liegt es am weichen Licht und dem leuchtenden Sonnenuntergang vor den mit Eisplatten überzogenen Steinen an der Uferböschung. Oder am türkisfarbenen Kaspischen Meer und der ruhigen, friedlichen Stimmung hier mitten im Winter. Am Waser ist es eben immer irgendwie besonders, egal zu welcher Jahreszeit. Die Innenstadt bzw. das, was wir davon sehen, kommt dann eher nichtssagend daher. Ein paar Statuen (u.a. ein russischer Kampfjet Marke MIG), Hotels, Schnellrestaurants und der Vinyl Retro Club mit Modern Talking im Herzen. Aber es wird fleißig gebaut und in ein paar Jahren wird es hier sicherlich anders aussehen. Wer weiß, vielleicht machen wir ja eines Tages doch noch die Fährüberfahrt von Baku aus. Reizvoll wäre es in jedem Fall.
Diner zu dritt
Junes macht die Entdeckung des Tages: das Restaurant Maida. Hier speist man in kleinen, voneinander abgetrennten Zimmern für maximal sechs Personen. Gefällt uns richtig gut und wir nehmen für das Abendessen eine Kabine mit Blick aufs Meer. Das ist i.Ü. das Konzept des Restaurants, einen großen Gastraum mit einzelnen Tischen gibt es nicht. Private und mit Paravants oder Vorhängen abgetrennte Sitzbereiche in Restaurants haben wir in den osteuropäischen Ländern schon öfter gesehen. Doch hier ist die Idee des privaten Dinierens baulich zu Ende gedacht. Und das Essen ist auch in Kasachstan der Hammer! Wir sind definitiv auf einem kulinarischen Luxustrip.
40 Stunden Kasachstan
6:20 Uhr: Der Taxifahrer wuchtet unsere Rucksäcke auf den Dachgepäckträger und uns auf den Rücksitz. Dann gehts durch das noch schlafende Aqtau rüber nach Mangistau, wo der einzige Bahnhof für Personenverkehr in der Region beheimatet ist. Ein langer Zug der KTZ steht abfahrbereit an Gleis 1, ausschließlich Schlafwagenabteile der zweiten und dritten Klasse, in der Mitte der altertümliche Restaurantwagen. Über zwei Tage lang wird dieses Gespann Tausende Kilometer durch die kasachische Steppe bis nach Almaty unterwegs sein. Für uns geht es mit dem 077XA bis nach Schymkent, knappe 2.500 Kilometer und „lediglich“ 40 Stunden. Was für ein Erlebnis. Wir schleppen reichlich Wasser, Brot, Wurst, Käse, Gurken, Obst, Knabbereien und Schokolade an Bord und machen es uns im großzügig geschnittenen Abteil gemütlich. Warm ist es da drin, der Kohleofen bollert. Endlich kommen unsere Shorts und Badeschlappen zum Einsatz. 🙂 Pünktlich auf die Minute geht es los, mit kräftigem Gehupe verabschiedet sich unser Zug von Aqtau und knappe zehn Minuten nach der Abfahrt verschwindet das Telefonsignal. Es wird für lange Zeit nicht wieder zurückkommen.
Ruhig geht es zu, kein Vergleich zum hektischen und oft viel zu aufgeregten Zugfahren in Deutschland. Telefonieren geht, wenn überhaupt, eh nur an den Bahnhöfen. Zeitdruck hat hier keiner, Verspätungen keine Relevanz. Zum einen gibt es eh keine Anschlusszüge zu erreichen, zum anderen sind bei so einer Fahrt quer durchs Land regelmäßig längere Aufenthalte eingeplant. Am Ende erreichen wir Schymkent genauso pünktlich, wie wir in Aqtau abgefahren sind. Zwischendrin üben wir uns in Geduld und legen immer mal wieder ein Schläfchen ein. Von Zeit zu Zeit kommen Händler:innen durch den Zug gestapft und bieten alles an, was das Herz begehrt: Selbstgebackenes, getrocknete Salzfische, Getränke, Snacks, Kleidung, Uhren, Schmuck, Kugelschreiber, Feuerzeuge und was sich sonst noch so alles in einem fahrenden Zug an die Reisenden bringen lässt.
Viel zu tun haben wir nicht: Fotos sichten, Blog schreiben, lesen, Schularbeiten machen, Podcast hören und Nachrichten schreiben, wenn zufälligerweise ein Balken auf dem Smartphone aufleuchtet. Zwischendrin geht der Blick immer wieder nach draußen. Wir sehen weites, kasachisches Land. Über Stunden hinweg. Mal mit Schnee, mal ohne. Ab und zu ein Kamel, Pferde, ein Auto, selten mal eine Industrieanlage, ab dem zweiten Tag kontinuierlicher Lastwagenverkehr auf der nebenan verlaufenden Autobahn. Es ist hier noch viel unendlicher als auf der Hochebene in Peru oder in der Wüste von Arizona. Irgendwie faszinierend. Es wird hell, dunkel, wieder hell und noch einmal dunkel. Dann ist Mitternacht und Schymkent erreicht. Wir gehen erst einmal schlafen!
Jetzt habe ich das Gegenteil eines Wimmelbildes kennengelernt 🙂